HEUTE NAHRUNG, MORGEN SPRIT, ÜBERMORGEN PLASTIK
Roman Herre (FIAN Deutschland)
Eine im Auftrag der Welternährungsorganisation FAO erstellte Studie zur Bedeutung von Landgrabbing in Lateinamerika kam 2011 zu bemerkenswerten Ergebnissen: Danach konzentriert sich Landgrabbing – sowie die damit einhergehende Anhäufung von Landbesitz in den Händen weniger Investoren und Konzerne – auf vier Anbauprodukte, nämlich Soja, Zuckerrohr, Mais und Palmöl.
Dies ist keine allzu neue Erkenntnis – von Bedeutung ist allerdings die Erklärung: Die Wissenschaftler_innen begründen dies damit, dass alle drei Pflanzen für unterschiedliche Nutzungen verwendbar sind. Zuckerrohr beispielsweise ist ein bedeutender Grundstoff für die Nahrungsmittelindustrie, kann zu Ethanol verarbeitet werden und zu „Bioplastik“.
Mittlerweile gibt es Raffinerien, die – je nach „Marktsignal“ – entweder Zucker oder Ethanol ausspucken. Soja ist Nahrungsmittel, Futtermittel und eine der wichtigsten Pflanzen zur Erzeugung von Biodiesel. Palmöl wiederum ist ein zentraler Grundstoff für die Nahrungsmittelindustrie (Margarine, Schokolade, Speiseöl etc.) und für Biodiesel. Weil sie flexibel einsetzbar sind, nennen die Autor_innen der Studie diese Pflanzen „Flex Crops“.
Durch diese Flexibilität ist eine Trennung zwischen Landgrabbing für Agrotreibstoffe und für Nahrungsmittel, eine Trennung Tank oder Teller, nicht mehr so einfach möglich. So entscheiden globale „Marktsignale“ – also die Frage, wo kurzfristig die höchsten Gewinne locken – welcher Endnutzung das Produkt zugeführt wird. Wenn der Zuckerpreis hoch ist, wird Zucker verkauft. Ist der Ethanolpreis hoch, wird Ethanol verkauft. Ist der Biodieselmarkt noch nicht etabliert wird gewartet und Palmöl vorläufig als Speiseöl verkauft und so weiter.
Kurzfristig können so riesige Mengen Nahrungsmittel umgeleitet werden und damit de facto vom globalen Nahrungsmittelmarkt verschwinden. Mit fatalen Folgen: Beispielsweise importiert Thailand heute zwei Million Tonnen Soja, Bangladesch eine Million Tonnen Palmöl. Für beide Länder sind diese Importe wichtig für die nationale Ernährungssicherheit, ein „Verschwinden“ großer Mengen Soja oder Palmöl durch Umnutzung kann in diesen Ländern zu Nahrungsmittelknappheit, Preisanstiegen und Hunger führen.
Neu und besonders explosiv ist das Zusammenspiel zweier jüngerer Entwicklungen: Erstens hat die Studie dokumentiert, dass Landgrabbing und die expandierende agrarindustrielle Produktion stark auf diese „Flex Crops“ setzen und dies die Abhängigkeit des globalen Ernährungssystems von wenigen Anbauprodukten verschärft. Zweitens haben sich erst seit wenigen Jahren globale Märkte für Agrotreibstoffe und Bioplastik etabliert. Hinzu kommt der rasant wachsende Futtermittelmarkt durch den weltweit steigenden Fleischkonsum. So ist eine Umnutzung von Nahrung kurzfristig und in gewaltigen Mengen nicht nur möglich, sondern auch lukrativ. Angesichts mehrerer potentieller Absatzmärkte reduziert sich das Investitionsrisiko der Landgrabber, und die Gewinne erhöhen sich.
Massive Auswirkungen auf das Ernährungssystem und die Verfügbarkeit von Nahrung in einzelnen Ländern sind zu erwarten. Nahrungsmittelpreise werden sicherlich noch stärkeren Preisschwankungen unterworfen sein. Wo das Risiko der Investoren sinkt, steigt das Risiko armer Menschen, sich Nahrung nicht mehr leisten zu können, und auf dem „freien“ globalen Markt entscheidet mehr denn je die größere Kaufkraft reicher Schichten und Länder, ob Nahrung für Plastik, Agrartreibstoffe oder Futtermittel verwendet wird.
Vor dem Hintergrund eines immer weiter deregulierten Weltmarktes, wie ihn auch die G8 gerade wieder auf ihrem Gipfeltreffen in England propagiert haben („Wir werden bei uns und weltweit Handelsbarrieren niederreißen“), bedeutet der Boom der „Flex Crops“, dass das globale Ernährungssystem noch unkontrollierbarer sein wird. Damit einher gehen große Gefahren für das Menschenrecht auf Nahrung, die bis dato ignoriert werden.
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