NACHHALTIGER AGROSPRIT – DIE ZERTIFIZIERUNGSLÜGE
von Jana Herbst
Ein schwüler Morgen im September. 04.30 Uhr. Zuckerrohrplantagen. So weit das Auge reicht. „Wir beginnen um diese Zeit mit dem Besprühen der Pflanzen, dann ist die Hitze noch nicht so schlimm“, erzählt Ricardo Perez, einer der vielen Männer, die durch die Felder schreiten, um die unzähligen Zuckerrohrpflanzen mit Pestiziden zu besprühen. Er macht diesen Job erst seit ein paar Monaten. Länger als ein Jahr halte es niemand aus, sagt er: „Diese Arbeit ist unangenehm. Der Geruch der Pestizide verfolgt dich bis in den Abend hinein.“ Man habe Kopfschmerzen und wisse genau, dass es nicht gut für die Gesundheit sei. „Erst letzte Woche ist wieder einer gestorben“, fügt der Landarbeiter hinzu, „das Zeug macht deine Nieren kaputt.“
Ricardo und seine Kollegen gehören zu den vielen hundert Arbeitern eines Zuckerrohrunternehmens in der Region Rivas im südlichen Nicaragua. Hier wird Zuckerrohr zur Herstellung von Agrokraftstoffen angebaut. Unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit landet es später in den Tanks deutscher Autos. Zertifizierte Nachhaltigkeit. Denn sowohl der Zuckerrohrbetrieb in Nicaragua als auch die weiterverarbeitende Ethanolanlage in Costa Rica besitzen ein Nachhaltigkeits-Zertifikat des deutschen Zertifizierers ISCC. Aufgrund der negativen Begleiterscheinungen der Agrokraftstoffproduktion hatte die EU durch die Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED) im Jahr 2009 unter anderem beschlossen, dass die Erzeugung von Biomasse für die energetische Verwendung nur noch nachhaltig erfolgen soll.
Die ISCC-Zertifizierung beinhaltet zwar im Gegensatz zu den RED Kriterien die Überprüfung der „Sozialen Nachhaltigkeit“, doch die Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung werden dabei kaum berücksichtigt. Die Bewohner_innen der angrenzenden Dörfer haben von der Zertifizierung nicht erfahren. Dorfbewohnerin Martha erzählt: „Unsere Stimmen hört niemand, nur die des Zuckerrohrunternehmens.“ In den vergangenen Jahren habe sich nichts verbessert. „Im Gegenteil“, so die junge Frau, „früher wurden hier noch Mangos, Bohnen und Avocados angebaut.“ Heute dagegen müsse man einen Großteil der Lebensmittel importieren.
Der arbeitslose Jurist Luis Hernandez erzählt vom Fischsterben in den kontaminierten Flüssen: „Einmal kam ein Funktionär des Gesundheitsministeriums, um das Wasser zu untersuchen. Doch es flossen Schmiergelder und so wurden die Ergebnisse nicht weitergegeben.“ In der Region Rivas arbeitet ein Großteil der Feldarbeiter_innen nur zur Erntesaison und ist nicht fest angestellt, weshalb sich ihre Arbeitsbedingungen durch die Zertifizierung nicht verbessert haben, denn die Schutzvorschriften beziehen sich nur auf feste Mitarbeiter_innen. Viele von ihnen berichten, dass sie bei der Ernte keine Schutzkleidung tragen, wohingegen bei den Festangestellten sorgfältig darauf geachtet werde. Die gesundheitlichen Auswirkungen wurden seit der Zertifizierung nicht geringer. Nutzen bringt der Nachhaltigkeitsnachweis vor allem den Unternehmen, für die sich – zertifiziert – die Türe zum europäischen Markt öffnet.
Die Departements Rivas und Granada, in denen das Zuckerrohr für den deutschen Agrosprit wächst, weisen die zweithöchste Rate von Niereninsuffizienz-Erkrankungen (IRC) in Nicaragua auf: Im Jahr 2009 waren in Rivas 76 von 100.000 Einwohnern erkrankt, zwei Jahre später wurde ein Anstieg um über 30% verzeichnet. In 2011 verstarben in ganz Nicaragua 1.516 Arbeiter_innen an Niereninsuffizienz. Atemwegserkrankungen, ausgelöst durch Gase und toxische Partikel, welche beim Abbrennen der Felder entstehen, nehmen besonders bei den unter 25jährigen zu. Davon betroffen sind nicht nur ungeschützte Plantagenarbeiter_innen, sondern auch die Familien, welche in der Nähe der Plantagen leben. Doch die Ausweitung der Plantagen schreitet voran: In der Region Rivas soll die Produktion von Zuckerrohr in den nächsten Jahren um ein Drittel steigen. Zertifiziert natürlich. zum Weiterlesen die Studie von Jana Herbst: Gibt es eine Nachhaltigkeitsgarantie? Ökologisch-Soziale Auswirkungen der Agrarkraftstoffproduktion in Rivas, Nicaragua als Ausdruck der Inwertsetzung von Natur (Mai 2013)
Studie von Jana Herbst: Gibt es eine Nachhaltigkeitsgarantie?
Ökologisch-Soziale Auswirkungen der Agrarkraftstoffproduktion in Rivas, Nicaragua als Ausdruck der Inwertsetzung von Natur (Mai 2013)
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