WAS EUROPÄISCHE RICHTLINIEN AUF NICARAGUANISCHEN FELDERN ANRICHTEN

Die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten in Europa ist von ernstzunehmender Brisanz. Energieversorgungssicherheit soll gewährleistet werden, ohne dass es Abstriche an den vorherrschenden Mobilitätskonzepten, dem Vorrang des individuellen Personenverkehrs oder der hochgerüsteten Automobilflotte gibt. Besonders der Verkehrssektor ist mit 30% des Energieverbrauchs der EU für den hohen CO2-Ausstoß verantwortlich. Agrokraftstoffe sollen die Importabhängigkeit von Russland und Ländern des Nahen Ostens auf die Länder Süd- und Mittelamerikas und Asiens verlagern. Der Handel mit Agrokraftstoffen steigt; die weltweite Ethanolproduktion hat sich binnen zehn Jahren vervierfacht.

Während die EU im Jahr 2006 noch 230 Mio. Liter Ethanol importiert hat, waren es 2010 schon 760 Mio. Liter. Mehr als die Hälfte davon wird in Südamerika hergestellt. Mit der Erneuerbare-Energien-Richtlinie von 2009 sollen alle Mitgliedstaaten bis 2020 den Anteil von Agrokraftstoffen im Verkehrssektor auf 10% erhöhen. Bioethanol für Benzin wird überwiegend aus Zuckerrohr, Mais, Reis oder Weizen gewonnen; die Biodieselproduktion basiert beispielsweise auf Soja- oder Palmöl.

Die deutsche Biokraftstoffnachhaltigkeits-Verordnung von 2009 hält fest, dass nur Energien aus Biomasse berücksichtigt werden, wenn sie zu einer Minderung der Treibhausgasemissionen von mindestens 35% beitragen. Ebenso müssen in Deutschland diejenigen, die den Agrokraftstoff in den Verkehr bringen, einen Nachhaltigkeitsnachweis erbringen. Soziale Auswirkungen der Produktion werden in den gesetzlichen Regelungen allerdings nicht erfasst; die Nachhaltigkeitskriterien beschränken sich auf ökologische Kriterien, wie das Anbauverbot von Agrokraftstoffen auf Grünland mit hoher Biodiversität oder auf kontinuierlich bewaldeten Flächen. Soziale Standards besitzen lediglich einen Empfehlungscharakter. Kontroll- oder Sanktionsmechanismen gibt es weder bei den ökologischen noch bei den sozialen Aspekten.

Dies zeigt sich auch am Beispiel Nicaragua deutlich: Zwar ist die Ethanolproduktion aus Zuckerrohr in Nicaragua gering im Vergleich zu den Spitzenreitern USA und Brasilien. Dennoch hat die Bioethanolproduktion für Nicaragua eine hohe wirtschaftliche Bedeutung: Die Produktion beschäftigt 35.000 Menschen; das Exportvolumen umfasst 80 Mio. US-Dollar. Im Erntezyklus 2009/10 wurden 850.000 Liter Bioethanol pro Tag produziert, wovon fast der komplette Export (80 Mio. Liter) in die EU ging. Und die Produktion wird nicht nur durch die europäische Nachfrage, sondern auch durch die Förderpolitik Deutschlands in die Höhe getrieben: In einer parlamentarischen Anfrage an die deutsche Bundesregierung bestätigte diese Anfang 2012 einen Kredit der Deutschen Entwicklungsgesellschaft (DEG), Tochter der staatlichen KfW-Bankengruppe, von 10 Mio. US-Dollar an die Grupo Pellas. Inhaber ist der reichste Mann Nicaraguas, Betreiber der Zuckerrohrraffinerien „Nicaragua Sugar Estade Ltd“. Damit wurde ein Kredit der Weltbank-Tochter für Risikofinanzierungen IFC (International Finance Corporation) von insgesamt 55 Mio. US-Dollar langfristig abgesichert.

Mit öffentlichen Steuergeldern der DEG sollen Investitionen getätigt, die Produktivität gesteigert und die Agrospritproduktion um 25-30% erhöht werden. Einen Zusammenhang zwischen den gesteigerten Hektarerträgen, dem erhöhten Pestizideinsatz und der daraus folgenden Wasserverunreinigung und Zunahme von Niereninsuffizienzerkrankungen wies die Bundesregierung als unbewiesen zurück. Zu ernsthaften Untersuchungen der Auswirkungen ihrer Förderpolitik ist sie nicht bereit und wälzt alle Lasten auf die Produktionsländer ab. Da aber die Produktionsausweitung und -intensivierung eine direkte Folge der Interessenlage der deutschen und europäischen Agrokraftstoffpolitik ist, wäre es nur konsequent und gerecht, wenn mit den Rohstofferlösen zumindest ein Kompensationsfonds zur unmittelbaren medizinischen Versorgung und zur ökonomisch-sozialen Stärkung für Kleinunternehmen ehemaliger Zuckerrohrarbeiter_innen finanziert würde.

Nach der kritischen öffentlichen Debatte im Herbst 2012 zeichnet sich nun eine Änderung der Agrokraftstoffpolitik auf europäischer Ebene ab: Statt einer Erhöhung des Anteils von Agrotreibstoffen im Verkehrssektor auf 10% im Jahr 2020 soll dieser nun auf 5,5% begrenzt werden.

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