Zuckerrohr und die Insel der Witwen

von Laura Verweyen

„La Isla“ ( „die Insel“) – ein schöner Name für ein nicaraguanisches Dorf in der Nähe der Stadt Chichigalpa bei León. Dem Besucher bietet sich ein Idyll, zwischen Zuckerrohrfeldern und einem Fluss gelegen, mit Blick auf eine Vulkankette.
Es gibt jedoch auch eine andere Realität: Die meisten Männer und auch einige der Frauen erkranken durch ihre Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen an chronischer Niereninsuffizienz und die Anzahl der dadurch bedingten Todesfälle ist auffällig hoch. Sieben von zehn Männern leiden unter der Krankheit. Es befinden sich kaum noch Männer im Alter von circa 50 Jahren unter den Dorfbewohnern, weshalb das Dorf seit einigen Jahren auch als „La Isla de las Viudas“ („die Insel der Witwen“) bezeichnet wird.
Ein führendes internationales Unternehmen im Zuckerrohranbau in Nicaragua ist die Pellas Gruppe. Die Felder in der Region Chichigalpa gehören Pellas. Die Menschen sind von dem Konzern als Arbeitgeber seit Jahrzehnten abhängig. Aufgrund geringer Schulbildung und/oder fehlender Alternativen sind die Menschen in La Isla auf die Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen des Unternehmens angewiesen.

Krank durch Zuckerrohr

Das Dorf La Isla und seine BewohnerInnen sind jedoch nur ein Beispiel für den Zusammenhang von Zuckerrohr und chronischem Nierenversagen. In ganz Nicaragua und auch in anderen mittelamerikanischen Ländern ist Niereninsuffizienz unter ArbeiterInnen auf Zuckerrohrplantagen und den AnwohnerInnen in der Nähe der Felder verbreitet. Als Ursache wird in erster Linie der ständige Einsatz von Pestiziden, Herbiziden (u. a. das von derWeltgesundheitsorganisation verbotene Paraquat) und Düngemitteln auf den Feldern identifiziert. Die Mittel werden häufig ohne entsprechende Schutzmaßnahmen aufgebracht und verunreinigen zudem auf Dauer das Wasser in der Region. Der ständige Kontakt mit den Pestiziden, gepaart mit den unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf den Feldern, führt schließlich zur tödlichen Krankheit: In der Hitze Nicaraguas arbeiten die Männer und Frauen und häufig auch Kinder mehr als 12 Stunden pro Tag, haben eine halbe Stunde Pause und können den durch Hitze und körperliche Arbeit verursachten Wasserverlust kaum durch Trinken ausgleichen.
Und was unternehmen die Firmen, konfrontiert mit der tödlichen Krankheit einer Vielzahl ihrer ArbeiterInnen? Sie weisen den Zusammenhang von Krankheit, Pestiziden und Arbeitsbedingungen weit von sich. Erkranken ArbeiterInnen, werden sie ohne Abfindung und ohne Begründung entlassen. Um zu überleben und die teure Behandlung des Kranken zu zahlen, müssen die meist vielköpfigen Familien häufig ihre Söhne auf dieselben Felder zur Arbeit schicken, die schon die Väter krank gemacht haben. Ein tödlicher Kreislauf. Nur wenige ArbeiterInnen sind sozialversichert. Insbesondere wird die Berufsunfähigkeit aufgrund der Verwendung toxischer Stoffe nicht anerkannt, weshalb von den ArbeiterInnen Verhandlungen mit Regierung und Konzernen geführt werden. Daher gelingt es den Angehörigen trotz aller Anstrengungen oft nicht, die überlebensnotwendigen, teuren Medikamente und Dialysebehandlungen dauerhaft zu bezahlen – ganz zu schweigen von einer rettenden Nierentransplantation.
Zwar haben sich einige ehemalige ZuckerrohrarbeiterInnen zur „Nicaraguanischen Vereinigung der Opfer chronischer Niereninsuffizienz“ (ANAIRC) zusammengeschlossen, jedoch zeigen ihre Anstrengungen, Aufmerksamkeit und Gerechtigkeit zu erlangen, bislang keine großen Erfolge – ein Beweis für die enge Verknüpfung politischer und wirtschaftlicher Interessen in der Zuckerrohrindustrie. Um jedes Jahr auf immer größeren Flächen Zuckerrohranbau betreiben zu können, ist den Unternehmen jedes Mittel recht: Bauern werden vertrieben, die Firmen eignen sich große Flächen unrechtmäßig an, grundlegende Menschenrechte werden missachtet.

Fataler Energiehunger

Doch warum ist die Ausbeutung auf den Zuckerrohrplantagen so gnadenlos? Grund dafür ist die starke internationale Nachfrage nach Zuckerrohr: Aufgrund der Vielseitigkeit des Rohstoffes kann dieser zu Zucker oder Bioethanol verarbeitet werden. Er ist also sowohl für die Nahrungsmittelindustrie als auch als Biokraftstoff interessant und damit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. So wird der bekannte nicaraguanische Rum „Flor de Caña“ ebenso von der Pellas Gruppe produziert wie das Bioethanol, das wir in unserem Benzin wiederfinden und das uns das gute Gefühl geben soll, ökologisch nachhaltig zu tanken.
Die ökologische Nachhaltigkeit des Zuckerrohrs mag nachgewiesen sein, für die sozialen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Folgen, unter denen die Bevölkerung leidet, interessiert sich jedoch seitens der HerstellerInnen und der AbnehmerInnen im In- und Ausland niemand.

Lebende Tote

Zurück nach La Isla: Im Schulhof sitzt eine Gruppe junger Männer. Sie diskutieren darüber, welche beruflichen Möglichkeiten sich ihnen nach ihrem Schulabschluss bieten. Einige würden gerne eine Ausbildung bei einem Schweißer in einem Nachbardorf beginnen. Alle haben Angst vor der Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen. Einer der jungen Männer formuliert seine Ängste und Wünsche so: „Ich möchte einmal eine Freundin haben. Gerade will mich kein Mädchen. Sie denken alle, dass ich wie mein Vater auf den Zuckerrohrfeldern arbeiten werde. Sie denken, ich bin ein lebender Toter.“

[Dieser Artikel von Laura Verweyen erschien zuerst in der Ausgabe 3/2013 des Magazins presente der Christlichen Initiative Romero . Herzlichen Dank für die Erlaubnis zur Veröffentlichung!]

 

 

 

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